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Ostwestfalen meets Russia Land der Gegensätze

Teil II: Land der Gegensätze

Ostwestfalen meets Russia Land der Gegensätze
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Russland polarisiert. Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen sind angespannt, es gibt viele Missstände, die kritikwürdig sind. Das größte Land und die zwölfgrößte Volkswirtschaft der Erde ist ein schwieriger Markt. Aber ein Markt mit Potenzial, vor allem für Mittelständler. Während der 16. Internationalen IHK-Begegnungswoche zeigen Experten unter dem Motto „Ostwestfalen meets Russia“ Chancen für das Geschäft mit Russland auf.

Wenn ich in Deutschland Vorträge über Russland halte, lade ich die Zuhörer gern zu einem kleinen Quiz ein. Dann stelle eine Handvoll Fragen, um das in der Regel einseitige Russlandbild zurechtzurücken. Welches Land hat in den vergangenen Jahren im Doing Business Index der Weltbank einen Sprung um 88 Plätze nach vorne gemacht? Das war Russland. Noch 2011 lag es abgeschlagen auf Platz 123 eingerahmt von Uruguay und Uganda. Heute hat es sich auf Platz 35 hervorgearbeitet. Welche Hauptstadt hat die geringste Arbeitslosigkeit? Das ist Moskau, das mit seinen 12,4 Millionen Einwohnern bei weniger als einem Prozent liegt. In Washington liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei fünf Prozent, in Paris bei 8,5 und in Berlin bei knapp zehn Prozent.

REALE LAGE BESSER ALS WAHRNEHMUNG
Russland will im Rahmen seines Programms „Digitale Wirtschaft“ bis 2024 in allen seinen Millionenstädten ein 5G-Netz in Betrieb nehmen. Das für seine kurzen Abstände zwischen den Zügen und die Schönheit seiner Stationen berühmte U-Bahn-Netz hatte als eines der ersten weltweit Internetverbindung in fahrenden Zügen. In Parkplätze können sich Autofahrer lange schon frei von altmodischen Parkscheinautomaten über das Telefon ein-und ausloggen. Und auf den Friedhöfen der Stadt lassen sich Verwandte oder berühmte Persönlichkeiten über eine App suchen. Das alles ist für viele genauso überraschend wie die Tatsache, dass die Fluglinie Aeroflot, die lange den Beinamen „Aeroschrott“ trug, inzwischen über einen der jüngsten Flugzeugparks Europas verfügt und vom Fachmagazinen sogar zur besten Fluglinie Europas gewählt wurde. Sicher gibt es in Russland viele kritikwürdige Missstände. Es darf aber als Paradigma gelten, dass
die reale Lage im größten Flächenstaat der Erde immer besser ist als die Wahrnehmung im westlichen Ausland. Das gilt nicht zuletzt auch für die Wirtschaft.

MAKROÖKONOMISCH GUT AUFGESTELLT
Makroökonomisch steht Russland verhältnismäßig gut da. Das Land hat den Doppelschock aus niedrigen Öl- und Gaspreisen einerseits und den westlichen Sanktionen andererseits insgesamt gut verkraftet. Es kann die weltweit sechsthöchsten Währungsreserven und gleichzeitig die weltweit sechstgeringste Schuldenquote vorweisen. Der Anteil der Schulden im Vergleich zum Bruttosozialprodukt liegt deutlich unter 20 Prozent, in Deutschland bei rund 65 Prozent und in südlichen EU-Ländern wie Italien, Griechenland oder Portugal bei weit über 100 Prozent. In den ersten beiden Jahren seit der Ukrainekrise haben russische Unternehmen, meist Firmen in Staatsbesitz, 220 Milliarden Dollar Auslandsschulden zurückgezahlt. Das ist mehr als der Staatshaushalt mancher EU-Staaten. In diesem Jahr hat die Ratingagentur Standard & Poor’s Russland auf Investitionsniveau hochgestuft. Im vergangenen Jahr konnte Russland trotz des Sanktionsregimes 25 Milliarden Dollar an Eurobonds platzieren, 2016 waren es 16 Milliarden gewesen und im Krisenjahr 2014 lediglich vier.

GROSSE KAUFKRAFT VORHANDEN
Russland hat die größte Bevölkerung in Europa mit der größten Kaufkraft der sich entwickelnden Ländern. In Europa steht es bei ausländischen Direktinvestitionen an zweiter Stelle. Das war sowohl in 2016 als auch in 2017 so. Ende März lag die Inflation bei nur rund zwei Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit Anfang der Neunziger Jahre die Sowjetunion zerfiel. Der Leitzins liegt seit der Märzsitzung der Zentralbank bei 7,25 Prozent. Das klingt viel für deutsche Ohren, ist es aber nicht für russische Ohren. Im Frühjahr 2015, vor drei Jahren, war der Leitzins noch doppelt so hoch und die Inflation lag 2015 bei 12,9 Prozent. Trotz dieser positiven Bilanz wird Russland auch in 2018 unter dem durchschnittlichen, weltweiten Wirtschaftswachstum bleiben. Mit nur einem Prozent Wachstum rechnen die Analysten der Alpha-Bank, der einzigen großen privaten Bank Russlands. IWF und Weltbank prognostizieren 1,8 Prozent. Bei allem berechtigten Lob für den makroökonomischen Kurs liegen die Dinge auf Unternehmensebene doch weiter im Argen – nicht zuletzt deshalb fällt das Wachstum schwach aus. In vielen Bereichen haben sich die Investitionsbedingungen in den vergangenen Jahren zwar verbessert und in den Regionen liefern sich Gouverneure einen regelrechten Wettlauf um Investoren. Nach Jahren des Rückgangs wächst die Automobilindustrie wieder zweistellig, der Bausektor hat sich stabilisiert, Landwirtschaft und Pharmaindustrie entwickeln sich deutlich positiv.

FÜHRENDE STELLUNG BEIBEHALTEN
Alte postsowjetische Krankheiten aber wie Clan- und Vetternwirtschaft, Korruption, Überbürokratisierung, mangelnde Rechtssicherheit, eine schwache Zulieferindustrie und die immer noch hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten hemmen die Entwicklung. Unter den veränderten Bedingungen seit der Ukrainekrise hat es die deutsche Wirtschaft dank ihres Unternehmergeistes und der Fähigkeit, sich schnell an neue Rahmenbedingungen anzupassen, vermocht, ihre führende Stellung in Russland beizubehalten, die Deutschland traditionell inne hat. Lange schon ehe die Begriffe „Lokalisierung“ und „Importsubstitution“ nun Einzug in die russische Wirtschaftspolitik hielten, haben deutsche Unternehmen so viel in Fabriken und Montagehallen im größten Flächenstaat der Erde investiert wie Firmen aus keinem anderen Land. Ende des 19. Jahrhunderts waren 207 von 378 ausländischen Industrieunternehmen in Russland in der Hand von Deutschen. Zwar sank die Zahl der in Russland registrierten Firmen mit deutscher Beteiligung jüngst von ihrem Höchststand im Jahr 2011 –damals stolze 6301 – auf heute 4.965. Das entspricht einem Rückgang von 21 Prozent in sieben Jahren. Während die Quantität der Firmen sinkt, steigt die Qualität des Engagements.

MITTELSTÄNDLER INVESTIEREN
Laut unserer Geschäftsklimaumfrage blicken drei Viertel der Unternehmen optimistisch in die Zukunft und sie tun das auch, weil 63 Prozent unserer Firmen im vergangenen Jahr ihren Umsatz steigern konnten. Die jährlichen Netto-Direktinvestitionen deutscher Firmen bleiben hoch und betrugen im vergangenen Jahr laut Bundesbank 1,7 Milliarden Euro. Volkswagen nahm seit 2014 eine knappe Milliarde Euro in die Hand, Mercedes legte den Grundstein für ein 250-Millionen-Euro-Werk und BMW kündigte an, eine Fabrik zu bauen. Der Löwenanteil der Investitionen aber fällt auf mittelständische Unternehmen. Der Elektrokomponentenhersteller Phoenix Contact und Heizsystemeproduzent Viessmann haben neue Werke eröffnet, der Arzneimittelhersteller Bionorica baut aktuell ein Werk in Woronesch, um nur drei von Dutzenden Beispielen zu nennen. Wer vor Ort produziert, profitiert bei den Anfangsinvestitionen vom niedrigen Rubelkurs, den in Euro gemessen niedrigen Löhnen und einer im Großen und Ganzen gut ausgebildeten Bevölkerung.

WIRTSCHAFT IST DIE BESTE BRÜCKE
Auch die AHK kann bei der Mitgliederzahl Positives vermelden. Im vergangenen Jahr konnten wir
die Zahl der Neueintritte im Vergleich zu 2016 um 40 Prozent steigern und die Zahl der Austritte um 20 Prozent senken. Zur hohen Anerkennung für unsere Arbeit wie sie unsere neuesten Zufriedenheitsumfrage zum Ausdruck kommt, tragen neue Formate wie der Nachrichtennewsletter AHKMorgentelegramm bei, der zweimal wöchentlich exklusiv für unsere Mitglieder und Kunden erscheint, oder der AHK-Treff international, bei dem wir zweimal im Jahr unsere 800 Mitgliedsfirmen mit jeweils einem anderen ausländischen Wirtschaftsverband zusammenbringen. In politisch angespannten Situationen stellt die Wirtschaft seit jeher die beste Brücke zwischen Völkern dar. Immer wieder haben sich Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland als stabilisierendes Element gerade in Krisen- und Umbruchzeiten erwiesen. So war es in den Hochzeiten des Kalten Krieges, als das Erdgas-Röhrengeschäft in den Siebziger Jahren zur Entspannung zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland beitrug. Der Industrielle Otto Wolff von Amerongen, der so einflussreich war, dass Medien ihm den Spitznamen „Osthandelsminister“ verpasste, hielt fest: „Ich war immer davon überzeugt, dass dank dieses Deals ein ständiger Gesprächskanal gefunden wurde, eine verlässliche Brücke für die weitere Entwicklung oder, stärker ausgedrückt, die Wiederherstellung der traditionell guten deutsch-russischen Beziehungen, wie sie vor der Oktoberrevolution 1917 bestanden haben.“ Das nach wir vor starke Engagement deutscher Firmen in Russland gibt Anlass auch zu politischen Hoffnungen.
Matthias Schepp, AHK Moskau

Die ganze Russland-Serie zur „Ostwestfalen meets Russia“-Woche gibt es in der aktuellen Ausgabe der OWi

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