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„Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Technik ist gestaltbar“

INTERVIEW Der Industriesoziologe Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen fordert angesichts der Digitalisierung eine grundlegende Debatte über die Zukunft der Arbeit – denn Arbeit entwickelt sich nicht automatisch zum Besseren

Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen (70) hat Wirtschaftsingenieurswesen und Soziologie studiert. Von 1997 bis 2015 hatte er den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Technischen Universität Dortmund inne. Seit 2015 ist er an der TU Dortmund weiterhin für Forschung im Themenfeld Digitalisierung und Arbeit beauftragt.

Herr Professor Hirsch-Kreinsen, warum ist Digitalisierung für so viele Wirtschaftsbereiche wichtig?

Das Thema ist eigentlich nicht neu. Computer werden seit Jahren in der Fertigung für Konstruktions- und Entwurfsarbeiten aber auch in Servicesektoren, etwa der Finanzwirtschaft, intensiv genutzt. Durch die rasante Hardwareentwicklung und sinkenden Kosten fällt heute jedoch eine Art „Bottle-Neck“-Problematik weg, das heißt, bisherige Anwendungsdefizite digitaler Technik können überwunden werden und es eröffnen sich komplett neue Anwendungsmöglichkeiten. Ein Beispiel im industriellen Bereich sind Werkstattinformationssysteme. Früher wurde über Informationsdefizite und sogenannte Medienbrüche geklagt, man hat gleichzeitig mit Computerinformationen und Laufzetteln gearbeitet, keiner wusste genau, ob Information vollständig waren und welcher Stand aktuell war. Den Stand der Fertigung können sie heute digital eindeutig abbilden und eine „papierlose“ Fertigung realisieren. Oder denken sie an intelligente Assistenzsysteme, die bei der Montage von Maschinen und Anlagen systematisch Arbeit unterstützen können.

Beim Thema Digitalisierung geht es heute vor allem auch um die Vernetzung innerhalb der Betriebe. So können sie Steuer- und Koordinationsprozesse entlang der Wertschöpfungskette verbessern. Darüber müssen sich Betriebe Gedanken machen.

Wie verändert Digitalisierung unsere Arbeitswelt, gehört der Acht-Stunden-Präsenzarbeitstag damit der Vergangenheit an?

Nein, auf keinen Fall, da muss man differenzieren. In der Industrie wird auch in Zukunft weithin ortsgebunden gearbeitet und ein fester Arbeitsplatz bleibt weiterhin die Norm. Allerdings beobachten wir Tendenzen zu deutlich mehr Flexibilität bei der Arbeit, soziologisch gesprochen werden Organisationsstrukturen und Arbeitszeiten entgrenzt. Ein Beispiel ist Instandhaltungsarbeit: Durch die Digitalisierung erhält die Instandhaltung permanent Informationen über den Zustand von Maschinen. Kommt es zu Störungen, so kann der Servicetechniker beispielsweise auch am Sonntagabend den „Tatort“ unterbrechen und schnell reagieren.

In anderen Arbeitsbereichen wird es zu Auslagerungstendenzen kommen, beispielsweise im Marketing oder bei standardisierten Konstruktionsarbeiten. Digitalisierung ermöglicht Arbeitsprozesse, die auch als „Crowd-Working“ bezeichnet werden, das heißt, Aufträge können über plattformgesteuerte Prozesse im Prinzip global vergeben werden.

Grundsätzlich aber warne ich vor überzogenen Prognosen in Hinblick auf die Entwicklung digitaler Arbeit: Negative Thesen sind, dass durch Digitalisierung massive Arbeitsplatzverluste drohen. Da sind wahnsinnig schwarze Prognosen im Umlauf, die davon ausgehen, dass über kurz oder lang knapp 50 Prozent aller Jobs verschwinden werden. Solche Prognosen stehen methodisch auf äußerst wackliger Basis. Positiven Prognosen kann man entgegenhalten, dass sich Arbeit nicht automatisch zum Besseren entwickelt. Meine Generalthese lautet, dass der Zusammenhang zwischen Arbeit und Technik gestaltbar ist, durch Politik, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Gewerkschaften.

Was fehlt noch auf dem Weg zum ‚digitalen Deutschland‘?

Sicherlich ist die teilweise schlechte Netz-Infrastruktur ein problematischer Punkt. Persönlich frage ich mich auch, ob ich wirklich einen intelligenten Kühlschrank brauche, der von selbst Milch nachbestellt (lacht).

Was wir aber vor allem brauchen ist eine grundlegende Debatte darüber, wohin sich dieses Land und die Arbeitswelt entwickeln sollen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, eine Art Humanisierungsdebatte der Arbeit wie in den 1970er-Jahren zu führen. Ein gesellschaftspolitisch wichtiger Aspekt dabei ist, wie verhindert werden kann, dass ganze Bevölkerungsgruppen abgehängt werden, wie der sogenannte „digital divide“ in der Gesellschaft vermieden werden kann. Welche Weiterbildung oder Qualifizierung benötigen wir? Wie gehen wir mit prekären Jobs um, wie nehmen wir diese Beschäftigungsgruppen mit? Klar ist auch, dass nicht alle Beschäftigten in Zukunft „High-Tech-Mitarbeiter“ sein können.

Neue Technologien oder ‚der Fortschritt‘ lösen zunächst Vorbehalte und Ängste aus – erkennen Sie wiederkehrende Muster bei der Diskussion um die Digitalisierung im Vergleich zu anderen technologischen Entwicklungen?

Diskurse über disruptive Konsequenzen des technologischen Wandels hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Als die Mikroelektronik in den 1980er-Jahren mit der NC- und CNC-Steuerung von Maschinen in die Betriebe einzog, hatten wir eine heftige Diskussion über Qualifikationen und Arbeitsplätze. „Sie werden ersetzt“ lautete damals eine Spiegel-Schlagzeile über Facharbeiter – nichts davon ist eingetreten. Ähnlich verlief in den 1960er-Jahren eine intensive Automatisierungsdebatte. Der Begriff der „technologischen Arbeitslosigkeit“ wurde von Keynes in den 1930er-Jahren eingeführt. Seitdem wird er diskutiert. Dabei wird übersehen, dass nicht allein der technologische Fortschritt, sondern auch wirtschaftliche Gründe für den Niedergang einer Branche verantwortlich sein können. Es ist ein dynamischer Prozess, der nicht nur in eine Richtung läuft.

Ein Blick in die Zukunft: Was folgt nach der Digitalisierung?

Der Prozess der Digitalisierung ist keineswegs abgeschlossen. Entwickelt werden mit massiver staatlicher Förderung gerade auch in Deutschland Systeme Künstliche Intelligenz, die autonom und selbstständig lernfähig ist. Wie schnell diese Entwicklung geht, wie aufwändig sie ist und welche neuen technologischen Anwendungspotenziale damit eröffnet werden, ist schwierig zu prognostizieren. Gerade deshalb bin ich der Ansicht, dass es in dieser Gesellschaft auch in Zukunft noch viele „analogen“ Bereiche geben wird.

Autor: Heiko Stoll

Fotos: ~ Bitter ~/stock.adobe.com; Privat

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